Station: [4] Herbstmeer V, 1910


In den Herbstmonaten der Jahre 1910 und 1911 entstehen Noldes Gemälde mit dem Titel Herbstmeere am Strand der Ostsee auf der Insel Alsen. Der Künstler richtet sich einen einfachen Bretterverschlag in unmittelbarer Nähe zur Küste ein und kann sich an dem wechselvollen Naturschauspiel vor seinen Augen gar nicht sattsehen. Von den insgesamt 20 dort geschaffenen „Herbstmeeren“ zerstört Nolde später drei eigenhändig, die verbliebenen 16 Gemälde sind heute in unterschiedliche Sammlungen weltweit verteilt und werden besonders geschätzt. In unserem Exponat Herbstmeer V verzichtet Nolde auf eine realistische Darstellung und bedient sich stattdessen einer abstrakteren Bildsprache. Selbst wenn uns der Titel unbekannt wäre: Das von Winden aufgewühlte Meer erkennen wir an den aufgebürsteten Wellenkämmen, während die Farbformationen im oberen Bildbereich an dunkle, schwere Sturm- und Gewitterwolken erinnern. Land oder Küste sind nicht auszumachen. Auch der Standpunkt des Betrachters liegt direkt auf dem Meer: Wir können uns nicht orientieren, wir haben keinen Abstand, sondern werden direkt in das Bild hinein versetzt – ein Bild, in dem nur Wasser und Luft dargestellt sind, die für Weite, Entgrenzung und, zumal in diesem aufgewühlten Zustand, für ungebändigte Naturgewalt stehen. Die Herbstmeere mögen eindrucksvolle Naturschauspiele zeigen, doch sie gleichen vielmehr inneren Bildern. Die Palette der eingesetzten Farben und der dynamische Duktus, mit dem Nolde sie auf die Leinwand bringt, werden zu den Ausdrucksträgern des Gemäldes.