Station: [6] Der Feuertrunk - Teil 2


Anna rief ihren Hund Florian und kletterte zu dem unbekannten Herrn aufs Pferd. Sie ritten über Felder und durch Wälder, und Florian sprang fröhlich bellend neben ihnen her. Schließlich erreichten sie eine große Burg mit einer hohen Mauer, mehreren Türmen und einem großen Tor.

Im Hof arbeiteten einige Bedienstete, die ihnen das Pferd abnahmen und in den nahen Stall führten. Sie selbst folgte ihrem Gastgeber durch eine kunstvoll geschnitzte Tür in das Schloss. Florian musste zu ihrem Bedauern jedoch draußen bleiben. Anna ging mit großen Augen durch die prächtig geschmückte Vorhalle und betrat staunend den ersten Saal. Sie war noch nie in einem Raum gewesen, der so prunkvoll ausgestattet war, mit kostbaren roten Vorhängen und vergoldeten Lampen. An den Wänden gab es wunderschöne bunte Tapeten – so etwas hatte sie noch nie gesehen! In der Mitte des Raumes saßen wohlgekleidete Herrschaften um einen großen Tisch, der mit köstlichen Speisen gedeckt war. Da gab es wunderbar angerichtete Braten, Kuchen und viele leckere Früchte. Ihr Gastgeber stellte Anna vor und sie wurde freundlich eingeladen, an der Feier teilzunehmen. Sie durfte sich mit an den Tisch setzen und essen, was und so viel sie wollte. Sie war begeistert!

Als das Essen beendet war, gingen alle in einen noch prächtigeren Saal, wo Musikanten zum Tanz aufspielten. Anna tanzte immer wieder mit ihrem Ritter. Dabei wurde ihr immer wärmer, denn der Raum hatte nur wenige und recht kleine Fenster. Sie wollte daher gern auch einen Schluck aus dem Krug nehmen, aus dem sich alle Damen bedienten. Ihr Gastgeber aber sagte: „Dieses Getränk ist nichts für dich; trink lieber ein Glas Wasser.“ Diese Antwort konnte sie gar nicht verstehen. Warum sollte sie nicht das trinken dürfen, was alle anderen erfrischte? Sie war enttäuscht, sagte aber nichts mehr und tanzte weiter. Als dann die Hitze jedoch unerträglich wurde, schnappte sie sich den nächsten Krug vom Tisch und trank ihn in einem Zug leer.

Aber wehe: Das fühlte sich an, als hätte sie Feuer getrunken! Ihr Hals brannte, und der Raum um sie herum schien zu wanken! Alle Anwesenden blickten sie erschrocken an. Anna sah noch, dass die Wände und Decken Risse bekamen und die Leuchter von der Decke fielen. Dann brach sie zusammen und fiel ohnmächtig zu Boden.

Als sie wieder zu sich kam, lag sie zwischen den Trümmern einer Burg. Von dem prächtigen Gebäude, in dem sie am Abend zuvor gefeiert hatte, war nichts mehr zu sehen. Um sie herum gab es nur noch zerbrochene Mauern und die Reste eines Turms. Alles erinnerte an die Ruine Rodenstein. Neben ihr saß ihr Hund Florian und stupste sie mit seiner feuchten, kalten Nase. Und dann erwachte sie.

Vor ihrem Bett standen ihre Mutter und ihr Vater, und in ihrem Bett saß Florian und wedelte mit dem Schwanz. Sie hatte nur geträumt und dabei nach den Eltern gerufen. Anna war sehr froh, dass die Steine der zusammenfallenden Burg sie nicht erschlagen hatten. Und sie war dankbar, wieder daheim zu sein.

Bald war sie auch wieder ganz gesund und alles war wie früher. Sie freute sich, wenn Gäste kamen und bediente sie gern. Den eleganten Herrn aber… sah sie nie wieder.

 

Text: Claus Fittschen, © Rodensteinmuseum  
1. Illustration: © Gabi Kowarsch, Fränkisch-Crumbach, mit freundlicher Erlaubnis
2. Illustration: © Sonja Hofferberth, mit freundlicher Erlaubnis