Station: [8] Die Schlange mit dem Schlüssel - Teil 1


Vor vielen Jahren ging eine Mutter mit ihrer Tochter Hanne gerade hier oberhalb der Ruine Rodenstein durch den Wald, um Brennholz zu sammeln. Dort trafen sie auf einen alten Mann mit schlohweißem Haar und einem Krückstock, der mühsam und traurigen Auges umherwanderte. „Warum siehst du so traurig aus?“ fragte Hannes Mutter. Der Greis antwortete: „Ich bin auf der Suche nach meinem Sohn. Seit fast hundert Jahren suche ich ihn jeden Tag, so alt bin ich schon! Er wurde mir von dem Wächter der Burgruine genommen. Denn der meinte, dass wir Steine aus der Burgruine stehlen, und vielleicht auch den Burgschatz ausgraben wollten. Er glaubte nicht, dass wir nur Holz sammelten. Zur Strafe für unsere angebliche Lüge verwandelte er meinen Sohn in eine Schlange. Dabei hatte er doch die Wahrheit gesagt!“ Der alte Mann klang ganz verzweifelt. „Und nun kann er nur von einem Mädchen erlöst werden, das noch nie die Unwahrheit gesagt und auch noch nie gestohlen hat. Könnte deine Tochter mir vielleicht helfen?“

Das Mädchen blickte seine Mutter an: „Ich glaube, ich habe noch nie gelogen, und gestohlen habe ich gewiss noch nie“, sagte es und es fand die Aufgabe ganz aufregend. Seiner Mutter aber war die Situation nicht geheuer, und sie fragte den Greis, „Was soll meine Tochter denn tun?“ Und er antwortete: „Kommt morgen um eine Stunde vor Mitternacht zur Ruine Rodenstein. Wenn sie tatsächlich immer ehrlich war, wird die Ruine für Euch wieder zur Burg erstehen, und ihr könnt sie betreten. In einem Raum im Keller werdet ihr eine Truhe finden, deren Schlüssel von einer Schlange bewacht wird. Das ist mein verzauberter Sohn. Wenn deine Tochter keine Angst hat und der Schlange zeigt, dass sie helfen will, wird sie ihr sicher das Schlüsselbund geben. Das ist das Zeichen, dann kann die Schlange wieder zum Menschen werden. Der Inhalt der Truhe kann euch reich machen. Aber Vorsicht, ihr müsst schnell sein, denn um genau Mitternacht wird die Burg wieder in sich zusammenfallen. Passt auf, dass ihr nicht von den fallenden Steinen erschlagen werdet!“ Die Mutter war natürlich besorgt und zögerte, aber Hanne war begeistert von dem Abenteuer: „Mutter, es wäre doch großartig, wenn wir den Jungen retten könnten! Lass‘ es uns doch versuchen!“ Schließlich ließ sich die Mutter überreden. 

In der nächsten Nacht gingen beide zur Burgruine, wie ihnen gesagt worden war. Kaum waren sie angekommen, hörten sie ein lautes Rumpeln und Krachen. Die Mauern wuchsen und bekamen Fenster und Türen und schließlich stand sie da: die Burg Rodenstein. Hanne war ganz aufgeregt, fasste ihre Mutter an der Hand und zog sie zu einer großen Holztür hin. Sie betraten die Burg und gingen durch einen Gang mit vielen glänzenden Rüstungen und Waffen an der Wand. Dann kamen sie in einen Saal, um dessen Tisch die Rodensteiner Ritter mit ihren Frauen an einem köstlich duftenden Festmahl saßen.

 

Text: Claus Fittschen, © Rodensteinmuseum
Illustration; © Andrea Fischer, Fränkisch-Crumbach, mit freundlicher Erlaubnis