
PASSAGES OF PERCEPTION INTO STRUCTURES
Arbeiten von Ruth Gilberger, Stefan Hirsig, Edward Kienholz, Langlands & Bell, Masch, moseke, Veronika Hubert Natter, Karl Renziehausen, Olaf Schirm, Arno C. Schmetjen und Susanne Specht in der digitalen Ausstellung:
Kunst ist Handlungsfeld, ist Genesis. Elf Kunstschaffende finden mit unterschiedlichen Materialien und Techniken
individuelle Wege der Wahrnehmung, die sie in Strukturen und Konzepte, Konturen und Texturen übersetzen. Unsere
Perzeption als Betrachter wiederum empfängt diese Möglichkeitsräume zwischen den jeweiligen Valeurs,
Materialstrukturen, Reliefs, Kompositionen und Themen der Künstleren. Ihre Motivation zum Vorstoß ins Unbekannte und das Technische zu entschlüsseln, soll hier nicht Aufgabe sein, sondern mir sind die uns offenbar werdenden narrativen Bildräume der Werke und ihre Metaebenen wichtig. Lassen Sie sich ein auf die diversifizierten Angebote, ohne viel über die Biografien der Werke zu wissen. Meine Kuration soll weder eine Auseinandersetzung oder gar die Heilung der Vergangenheit bedeuten, sondern in Korrespondenz treten mit dem Jetzt und auch im Walter Benjamin‘schen Sinne das „vom Sturm in die Zukunft Gewehte“ hervorbringen. Gegen die Banalitäten des Alltags hilft es, in sich zu ruhen und sich trotz unterschiedlicher Umstände selbst treu zu bleiben.
Um diese Ataraxis zu erreichen, brauchen einige Menschen eine „Contrescarpe“ [moseke], andere die Vergegenwärtigung ihres Selbst im Jetzt unter Hinzunahme eines Radiergummis [Olaf Schirm]. Stefan Hirsig stellt mit gestischen Bewegungen farbintensive Anbahnungen von „Kontakt“ her, während Langlands & Bell in ihrem Architekturmodell ein Wegeleitsystem visualisieren, deren Chiffre wir alle nur zu gut kennen. In den Gipsfrottagen von Susanne Specht fühlen wir uns an kartografische Umgebungsräume erinnert, die uns durch die Schichtungen hineinziehen und mittels reliefhafter Schraffuren bereit sind, aufzunehmen. Aufgenommen von der fluiden Musterung des Wassers gleitet hingegen der Schwimmer in Veronika Hubert Natters Fotografie „honey moon suite swimmer“ unter alle Widerständen hindurch. Und gleißend-gleitendes Licht zeichnet in „LA Morning routine #1 Downtown LA“ die im Schatten liegenden Reliefs der Architekturen nah, hinführend zu den knallroten Interieur-Spots, deren Überlagerung die Fotografin im sich vordergründig reflektierenden Moment einfängt. Diese Fäden nimmt „LA Morning routine #2 Downtown LA“ stilllebenhaft auf.
Auch ein Edward Kienholz spielt mit Stereotypen: Die Rollenspiele und Strategiezüge des Schachspiels sind auf
beiden Seiten modifiziert in Knäule, die offensichtlich nicht bereit sind, sich regelkonform zu entfalten, um das gewohnte
Spiel zu vollziehen. Die hierarchisch unterschiedlichen Autoritäten legen eventuell ein gemeinschaftlich-exzessives
Verhalten an den Tag ...
Relativ gefasst balanciert Arno C. Schmetjen die Elemente seiner Materialcollage in einen haptischen und kräftigen
Bildraum. Dem gegenübergestellt gelingt Masch das In-einen-inneren-Dialog-Treten von Strukturen und Spannungen in
„Never Again“. In seine Suche nach dem Wesen von Grau mittels mehrschichtigem Auftragen von Ölfarben, dem
Überlagern von verschiedenen Materialien und Farbmassen, realisieren wir in „Plenty of Grey“ die Natur-Nahbarkeit
künstlerischen Schaffens, dessen Kraft auch von der Absorption und Reflexion des Lichts lebt. Ähnlich liegt es bei
der frühen Arbeit von Karl Renziehausen, die das Narrative mittels Öl und Bindegarn auf dem Bildträger „IX/84“ hin zum
Objekthaften formt.
Das von Gregory Bateson der Schrift „Wo Engel zögern“ entnommene Zitat: „Ästhetik ist die Aufmerksamkeit für das
Muster, das verbindet.“ hat für Ruth Gilberger in den Jahren 2014 bis 2018 zwei großformatige Zeichnungen ausgelöst, die durch Lichtdurchlässigkeit und Tiefe evoziert eine enorme Plastizität haben. In „Bateson´s lover 1“ wölbt sich induktiv in still-reduzierter Performanz wie Gewebtes dem Betrachter entgegen, wohingegen das Gezeichnete in „Bateson´s lover 2“ zu sinken scheint, wie durch Feuchtigkeit erschwert. Und auch hier nehmen wir perzeptiv vornehmlich Gelerntes wahr: Können wir von den Auslassungen der Künstlerin auf Gaze oder Netze schließen? Als wenn das menschliche Gehirn permanent bemüht ist, Abstraktes oder Leerstellen aufzufüllen und abzugleichen – selbst beim Löcher-in-den-Himmel-starren suchen wir unwillkürlich nach Resonanz und entsteigen erst dann der Verunsicherung, wenn wir uns die Welt durch Wolkenschafe erklären können ...
In dieser Spannung zwischen Schaffen und Rezeption stehen alle Werke dieser Schau – und vereinen sich durch ihre
emotionalen Impulse, die uns Betrachter ins Bild ziehen. Ob pastos gesetzte Farbflächen, Handlungsanweisung, Fotografie, Modell, Materialcollage oder Grafitzeichnung, sie alle lösen subjektive Assoziationsketten aus, die uns unser Selbst mit einbringen lassen in die Bildräume. Und dies ist mir, die sich das Wort „Kurator“ vom Lateinischen curare „to care“ ableitet, gleichermaßen auf beiden Seiten wichtig: das Werk und seine Wahrnehmung.
Text: © Jana M. Noritsch (noritsch.de)
zur Ausstellung 5.11.2020 - 31.01.2021
Besten Dank für die Einladung zur Kuration einer Ausstellung im Rahmen der Lehr/Kuelbs Projects an Leo Kuelbs Collection und Dirk Lehr Collection!