Station: [7] Frau Amanita und die Kinder


Zur Herbstzeit gingen die Kinder im Rodensteiner Wald spazieren und sammelten Pilze. „Ich hab` schon Steinpilze im Körbchen“, rief Ute ganz stolz. „Und ich hab` Pfifferlinge gefunden“; entgegnete Volker. Auf einmal stand eine Frau vor ihnen, die Farbigkeit und Glanz ausstrahlte. „Ich bin Amanita und viel schöner als Steinpilze und Pfifferlinge“ behauptete sie. Sie war schlank, trug ein schneeweißes Untergewand und einen vornehmen, purpurroten und mit Hermelin besetzten Mantel. „Meine ganze Pilzfamilie schenke ich euch – ihr müsst nur zugreifen. Seht nur, da stehen meine Pilzkinder – da und da und dort und dort,“ sprach sie aufmunternd zu Ute und Volker. „Sie ist wirklich sehr schön,“ flüsterte Volker Ute zu. „Und ihre Pilzkinder sind es auch,“ meinte Ute. Da sammelten sie ganz fleißig die wunderschönen roten Pilze, die ihnen so gut gefielen. Bald waren ihre Körbe voll damit. 

 

„Kommt, Kinder, wir gehen in den Burghof und bauen uns aus den herumliegenden Steinen einen kleinen Herd. Trockenes Laub und Reisig finden wir genug im Wald. Ach, da liegt ja auch ein alter Topf. Aber er ist noch unbeschädigt. Und das Wasser holen wir vom Eichbrünnchen. Es ist gutes Wasser, denn damit wurden ja die Kinder der Rodensteiner getauft. Das wird eine schmackhafte Pilzmahlzeit geben! Gewürze brauchen wir keine, denn die Pilze schmecken ja von Natur aus so gut.“

 

Die Kinder waren begeistert, denn so ein kleines Waldabenteuer mit einer schönen warmen Pilzspeise am offenen Feuer – das gefiel ihnen. Und natürlich würden sie ihren Freunden davon erzählen. Aber woher das Feuer nehmen? Da kam gerade rechtzeitig ein Wanderer vorbei, um die romantische Burgruine zu besichtigen. Auch er war geblendet von der Schönheit Amanitas. Als die das bemerkte, fiel es ihr nicht schwer, ihn um Feuer zu bitten. Dann ging der Wanderer weiter.

 

Bald waren die Pilze gargekocht. Die Kinder nahmen nun – anstelle einer Gabel – kleine Zweige zur Hand. Frau Amanita sprach: „Lasst es euch gut schmecken, Kinder! Ganz rote Backen werdet ihr davon bekommen. Ihr werdet merken, wie müde ihr seid von dem vielen Herumlaufen im Wald. Und ihr werdet schlafen und von wunderschönen Dingen träumen – und eure Träume werden niemals enden.“

 

Da raschelte es im Gebüsch, und die beiden wilden Frauen vom Wildweibchenstein sprangen hervor. „Halt, ihr Kinder!“ riefen sie. „Das sind doch Fliegenpilze und die sind giftig! Wenn ihr davon esst, werdet ihr krank und vielleicht sogar sterben.“ Und plötzlich war Frau Amanita verschwunden.

 

Ute und Volker wurden leichenblass. Nur knapp waren sie einem schweren Unglück entgangen. Die wilden Frauen zeigten nun den Kindern ihre Felsenhöhle und machten sie mit vielen Pilzen und Kräutern aus Wald und Feld vertraut, die gesund für die Menschen sind. Nie mehr in ihrem Leben würden Ute und Volker Fliegenpilze anfassen und schon gar nicht sammeln und essen. Aber gemalt haben sie sie manchmal – weil sie doch so schön sind.

 

Text © Karl-Heinz Mittenhuber  
Illustration: © Jatta Heidelmann, Fränkisch-Crumbach, mit freundlicher Erlaubnis