Station: [32] Mosaik


Kleiner Mönch: Acht – neun – zehn – elf – und zwölf!

Es ist Mitternacht. Nun werde ich also das Mosaik mit eigenen Augen sehen. Mäuschen, bist du an meiner Seite?

Maus: Hier bin ich. Es ist ein bisschen dunkel. Aber ich bin da.

Maria: Psst! Kommt rasch zur Tür!

Kleiner Mönch: Da ist sie! Die Heilige Jungfrau. Sie hat uns nicht vergessen.

Maria: Natürlich nicht. Versprochen ist versprochen. Kommt rein.

Kleiner Mönch: Mehr als 800 Jahre hat es in der Erde gelegen. Nun kann ich kaum erwarten, es zu sehen.

Maus: Was du vielleicht wissen solltest – es ist nicht mehr ganz.

Kleiner Mönch: Wie? Nicht mehr ganz?

Maus: Von dem großen runden Mosaik fehlt das meiste, nämlich ein breiter Streifen in der Mitte. Es sind nur noch die Randteile rechts und links gefunden worden. Das Hauptbild ist also gar nicht mehr da, und auch die Schrift ist an vielen Stellen unterbrochen.

Maria: Und deswegen sind sich die Forscher bis heute uneins, was genau dargestellt war und was es zu bedeuten hat. Aber komm. Sieh selbst.

Hier ist es.

Kleiner Mönch: Das Mosaik. Allein für diesen Anblick hat sich mein Sturz in die Zeitspalte gelohnt. Ich sehe die Söhne der ersten Menschen, Kain und Abel. Kain war ein Bauer. Daher hat er ein Ährenbündel. Und Abel war ein Hirte. Er muss ein Schäfchen im Arm gehabt haben, aber seine obere Hälfte fehlt leider.

Maus: Aber – oh weh! – Kain wurde zornig und schlug seinen Bruder tot; hier sogar – gut zu erkennen! – mit einem Beil. Die ersten Geschwister der Menschheit und schon waren Streit und Zwietracht in der Welt.

Kleiner Mönch: Das ist traurig. Und trotzdem ist gerade dieser Teil vom Mosaik wunderschön. Hab’ du mal nur einen so schmalen Rand und bring darin ganz natürlich zwei Personen unter! Dass der Kain stinksauer ist, sieht man dran, wie er das Kinn vorgeschoben hat. Also ich könnte das nicht einmal malen, und die kriegen das hin mit Steinen!

Maria: Ja, das ist eines der schönsten mittelalterlichen Mosaiken überhaupt.

Maus: Wenn schon der Rand so gut ist, wie kunstvoll muss dann erst das Hauptbild in der Mitte gewesen sein! Es ist ewig schade, dass sich so eine breite Bahn der Zerstörung mitten durch das Mosaik zieht. Ob das Absicht war oder ein Missgeschick, weiß heute niemand mehr. Jedenfalls hat man nur wenige Jahrzehnte nach seiner Entstehung das Mosaik zugeschüttet und dann ab 1155 die neue romanische Kirche drübergebaut.

Kleiner Mönch: Oh je, oh je ...

Maus: Hesso, du siehst ja so blass aus.

Kleiner Mönch: Mir wird auch plötzlich ... so ... seltsam ...

Aahhh!

Maus: Was hat er bloß?

Halt dich fest! Am Geländer!

Kleiner Mönch: Zu spät! Ich fliege ... werde gezogen ... Seid gegrüßt! Adieu, meine Freunde!

Maus: Na so was! Sag mal, Maria, ist hier eben ein Sturm durchgegangen?

Maria: O nein, das war kein Sturm. Ihr habt die Zeitspalte gefunden.

Maus: Die Zeitspalte?

Maria: Durch die der kleine Mönch in unsere Zeit gebeamt wurde ... und jetzt wieder zurück.

Maus: Und diese ... Zeitspalte ... die verläuft hier unter der Kirche?

Maria: Mitten durchs Mosaik, wie es scheint.

Maus: Dann lass uns schnell verschwinden. Nicht, dass wir auch noch weggeweht werden. Was sollen denn die Kirchenbesucher sagen, wenn du morgen früh nicht mehr auf deiner Säule zwischen den Kirchenfenstern stehst?

Maria: Ja, morgen wird alles sein wie immer. Der kleine Mönch erwacht in seinem Schlafsaal und zieht sich an für den Frühgottesdienst. Du, liebe Maus, steckst wieder deine Nase überallhin, um noch klüger zu werden, als du es jetzt schon bist. Und ich freue mich, wenn die Morgensonnenstrahlen durch das Kirchenfenster langsam auf mich zuwandern.

Maus: Aber schade ist es doch um den netten kleinen Mönch. Wir hatten so viel Spaß miteinander. Aber so ist es nun einmal: Alles ist vergänglich. Und nichts dauert ewig. Auch nicht in dem über tausend Jahre alten Kloster Schuttern.

Dann werden wir mal. Warte, Maria! Ich komme mit!

Foto: © Historischer Verein Schuttern 603 e.V. / Gemeinde Friesenheim